von Plassmann » Di 17. Nov 2015, 08:07
Bernhard Sicken: Militärische Notwendigkeit und soziale Diskriminierung: Zur Ausweisung von Einwohnern aus preußischen Festungsstädten bei drohender Invasion (1830/31-1870/71). In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 74 (2015), S. 97-126.
Bernhard Sicken greift in diesem Aufsatz ein bislang wenig behandeltes Thema der preußischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auf: die militärischen Vorbereitungen auf eine mögliche Belagerung von Festungsstädten im Hinblick auf den Verbleib der Zivilbevölkerung. Diese wäre nicht allein durch die Kampfhandlungen gefährdet gewesen, sondern wurde aus militärischer Sicht auch als Belastung wahrgenommen, hätte man sie doch neben den Truppen versorgen müssen. Auch war man sich nicht immer sicher, wie sich die Bevölkerung verhalten würde und ob sie etwa durch Proteste u.ä. auf eine schnellere Übergabe der Festung drängen würde. Spätestens an dieser Stelle kamen Überlegungen über die politische "Zuverlässigkeit" gerade ärmerer Schichten hinzu, die nicht unbedingt als gegeben angesehen werden konnte. Die Lösung wurde in einer Ausweisung von Teilen der Bevölkerung gesehen, die die jeweilige Festung kurz vor Beginn einer Belagerung verlassen sollten. Ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der Auswahl der Auszuweisenden war die Frage, ob sich die Menschen während einer Belagerung selbst versorgen und dazu im Vorfeld Vorräte anlegen konnten. Die Ausweisungen hätten daher hauptsächlich den ärmeren Teil der Bürgerschaft betroffen. Das Los dieser Menschen wäre vermutlich alles andere als günstig gewesen, denn die staatlichen Stellen lehnten eine Versorgung dieser Evakuierten zumeist ab, weil soziale Zuwendungen eine kommunale Aufgabe sei. Die mit der potentiellen Aufnahme von hunderten oder tausenden von Menschen konfrontierten Kommunen im Um- und Hinterland der Festungen sahen dies naturgemäß anders (tempora non mutantur). Von einer geordneten Vorsorge für die Aufnahme der Ausgewiesenen konnte daher keine Rede sein. Glücklicherweise musste allerdings niemals die Probe aufs Exempel gemacht werden, weil es in den Kriegen des 19. Jahrhunderts zu keiner Einschließung einer preußischen Festung kam. Die praktische Unmöglichkeit, in Kriegszeiten kurzfristig eine Evakuierung großer Menschenmassen zu organisieren, wurde zwar den handelnden Personen mehr und mehr klar, so dass der Gedanke der Ausweisung Ende des 19. Jahrhunderts an Unterstützung verlor. Jedoch blieb den Festungskommandanten im Kriegsfall der Handlungsspielraum, selbst über diese Frage zu entscheiden.
Köln als eine bedeutende Festungsstadt war von all dem direkt betroffen. 1830/31 wurde die Ausweisung von etwa 15.000-18.000 Einwohnern geplant, 1859 die von 40.000, 1866 die von 60.000-80.000, und 1870 wurde die 100.000er-Marke erreicht. Das Steigen dieser Zahlen erklärt sich nicht allein durch den Bevölkerungsanstieg: 1830/31 wären 22-27% der Bevölkerung betroffen gewesen, 1859 schon 34-35% und 1870 sogar 75% (unter Einschluss von Deutz). Die Definition der Teile der Bevölkerung, die als nicht-selbstversorgungsfähige und potentiell unzuverlässige Unterschicht galt, wurde also immer mehr und schließlich auch auf Teile einer Mittelschicht ausgeweitet.
Sicken hat diese Fragen anhand von staatlichen Quellen untersucht. Interessant wäre es sicher, die kommunale Seite hinzuzunehmen und zu untersuchen, nach welchen Kriterien genau die Ausweisung geplant wurde und welche zusätzlichen, nicht-militärischen Erwägungen hierbei eine Rolle spielten. Allerdings hatten die örtlichen Stellen den Auftrag, die entsprechenden Planungen und Vorbereitungen möglichst diskret durchzuführen, um die Bevölkerung nicht zu verunsichern. Entsprechende Quellen aus der Stadtverwaltung und aus Nachlässen dürften damit nicht leicht zu finden sein. Lohnend wäre die Suche nach ihnen aber sicher.